Die griechische Corona-Politik wirft Fragen auf…

Akis Skertsos, Staatsminister im Amt des Premierministers, verantwortlich für die Koordination der Regierungspolitik meinte im Parlament bemerken zu müssen:

Ob wir die Studie kannten oder nicht ist nebensächlich, wir kannten sie nicht. Das ist beantwortet worden. Täglich bekommt die Regierung eine zweistellige Zahl solcher Daten, und Statistiken, die alle studiert und bewertet werden. Versuchen Sie also nicht, ein Thema aufzubauschen, welches von untergeordneter Bedeutung ist.“

Das, was für Skertsos von „untergeordneter Bedeutung“ ist, ist die Frage, ob mehr als ein Drittel der mehr als 20.000 Covid-Toten in Griechenland vermeidbar gewesen wäre.

Einer der beiden Autoren der von Skertsos herabgewürdigten Studie ist der wissenschaftliche Chefkoordinator der zwei Expertengremien, die von der Regierung mit dem Management der Corona-Pandemie beauftragt wurden.

Professor Sotirios Tsiodras, den Premierminister Kyriakos Mitsotakis öffentlich mit seinem Vornamen, „lieber Sotiris“ ansprach, und den Mitsotakis nach eigenen, öffentlich gemachten Angaben zwei, drei Mal die Woche persönlich spricht, hat zusammen mit Professor Theodore Lytras eine Studie über die Behandlung von Covid-Patienten veröffentlicht.

Eine Studie über etwas, was alle wissen – aber niemand kennt sie?

Die Studie selbst bezieht sich auf den Zeitraum vom 1. September 2020 bis zum 6. Mai 2021. Die Periode, in der Griechenland die zweite Welle der Pandemie erlebte. Sie kommt zur Schlussfolgerung, dass

die Krankenhaussterblichkeit schwer erkrankter COVID-19-Patienten durch eine hohe Patientenauslastung auch ohne Kapazitätsüberschreitung sowie durch regionale Disparitäten negativ beeinflusst wird. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer substanziellen Stärkung der Gesundheitsdienste, die sich neben der bloßen Kapazitätserweiterung auf Chancengleichheit und Versorgungsqualität konzentriert.

Vulgo, die öffentlichen griechischen Krankenhäuser sind nicht in der Lage, eine große Zahl von Patienten mit adäquater Intensivmedizin zu versorgen. Dabei ist die Situation in der Provinz im Vergleich zur Hauptstadt Athen schlimmer.

Die Studie kommt zum Schluss, dass es an Intensivbetten fehlt und dass das Gesundheitssystem dringend verstärkt werden muss. Wenn es mehr als 400 mit Covid-Patienten belegte Intensivbetten gibt, dann haben die übrigen Patienten nur geringe Chancen auf regelgerechte Intensivbehandlung und zählen zu den potentiell Todgeweihten.

Fehlende Intensivstationen

Normalerweise, in Vor-Pandemie-Zeiten, würde diese Aussage bei den Griechen ein Achselzucken und die Bemerkung, dass die Professoren wohl gerade „Amerika entdeckt“ hätten, hervorrufen.

Fast jede griechische Familie hat eine Geschichte über Verwandte, die entweder kein Intensivbett erhalten konnten, oder für die „Fakelaki“ (Schmiergelder) für eine Behandlung gezahlt werden mussten. Das Bewusstsein über den maroden Zustand der griechischen Krankenhäuser war schließlich mitentscheidend für die Disziplin mit der die Griechen 2020 den strengen Lockdown über sich ergehen ließen.

Durch die Auflagen und Forderungen der Kreditgebertroika (EU, EZB und IWF) wurde nach der faktischen Staatspleite der Gesundheitssektor noch mehr kaputtgespart. Stolz hatte der heutige Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis 2013 die beiden Seuchen- und Epidemiekrankenhäuser in Athen und Thessaloniki geschlossen. Spezialisierte Krankenhäuser mit dem entsprechenden Fachpersonal für virologische Erkrankungen, die in der Corona-Pandemie fehlen. Einer der griechischen Exportschlager der Krise sind junge, spezialisierte Ärzte.

Die Regierung hatte seit Beginn der Pandemie beteuert, dass sie neue Intensivbetten schafft. Zeitweise gab es sogar regierungsfreundliche Presseberichte, die mit Fotos von Bettgestellen und entsprechenden Überschriften einer „Übergabe von Intensivbetten“ garniert waren. Dass für den Betrieb der Betten eine nicht geringe Zahl von Fachpersonal notwendig ist, stand nicht in den Berichten.

Die Ärzte und der Premier

Die Gewerkschaften der Ärzte protestieren und mahnen seit Beginn der Pandemie, dass das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch steht. In der vierten Welle erreichte Griechenland Todeszahlen, welche das Land, gemessen an der Bevölkerungszahl, an die Spitze der am meisten betroffenen Länder katapultierte.

Die Anschuldigung der Ärzte war, dass das Fehlen von Intensivstationen und die Intubation von Patienten auf Fluren oder in Mehrbettzimmern zu erhöhten Todesraten führt, wurde von der Regierung nicht akzeptiert. Am 1. Dezember griff Premierminister Mitsotakis das Thema im Parlament auf. „Es gibt keine Studie, die belegt, dass Intubierte außerhalb von Intensivstationen ein höheres Todesrisiko haben“, erklärte er. Dreist forderte der Premier jeden, der so eine Studie habe, auf, diese doch zu präsentieren.

Dass nur wenige Tage später, am 13. Dezember, die Studie von Tsiodras und Lytras veröffentlicht wurde, strafte den Premier Lügen. Anstelle einer Entschuldigung oder eines professionellen Krisenmanagements begann ein Trauerspiel.

Professor Lytras lehrt in Zypern. Frei von jeglicher Abhängigkeit von der griechischen Politik erklärte er im Fernsehen und auch über Twitter, dass „höchste Stellen, die Entscheidungen treffen“ frühzeitig von der Studie wussten. Lytras betonte mehrfach, dass es eine frühere Veröffentlichung gegeben hätte, wenn nicht vorher die Möglichkeit bestanden hätte, die Verantwortlichen direkt zu informieren.

Beim Briefing am 16. Dezember behauptete Regierungssprecher Giannis Oikonomou,

die Studie war vor ihrer Veröffentlichung weder dem Premierminister noch einem der Mitarbeiter des Megaron Maximou (Amtssitz) übergeben worden".

Oikonomou griff die Opposition, die wegen der Studie und der offensichtlichen Lüge des Premiers auf die Barrikaden gegangen war, an. Er warf ihr Kannibalisierung der Wissenschaft im Namen parteipolitischer Interessen vor.

Wirtschaftsminister Georgiadis, einer der beiden Vizevorsitzenden der Regierungspartei und als früherer Gesundheitsminister mitverantwortlich für das Dilemma griff seinerseits die Ärzte an. Diese seien für die Intubationen außerhalb der Intensivstationen und damit für den Tod der Patienten verantwortlich behauptete Georgiadis im Fernsehen.

Es wurde versucht, den Generalsekretär des Gesundheitsministeriums zu kompromittieren. Quellen der Regierung streuten, dass dieser die Studie erhalten habe, was der Generalsekretär heftig dementierte.

„Mörder“ rief er und flog aus der Fraktion

Den Gipfel erreichte die Auseinandersetzung von Regierung und Opposition während der Debatte über die Abstimmung des neuen Staatshaushalts. Der frühere Gesundheitspolitiker der PASOK und spätere Minister für die SYRIZA-Regierung, Panagiotis Kouroublis, hat während der Pandemie Verwandte und Freund wegen Covid verloren. In seiner Rede warf er den Regierungsabgeordneten und der Regierung vor, eine mörderische Politik zu betreiben und den Tod von Patienten wissentlich einzukalkulieren. Seitens des Parlamentspräsidiums brachte ihm dies eine Rüge, die mit der Einbehaltung eines Viertels der Abgeordnetendiät verbunden ist, ein. Die Regierung forderte von Oppositionsführer Alexis Tsipras gegen Kouroublis vorzugehen, weil die Bezeichnung „Mörder“ die Ehre des Parlaments schädigen würde.

Kouroublis weigerte sich, seine Worte zurückzunehmen. Tsipras schloss ihn daraufhin aus der Fraktion aus. In Griechenland sind solche Ausschlüsse ohne großes Procedere, allein mit der Entscheidungsgewalt des Parteivorsitzenden möglich. Die Begründung war, dass die Oppositionspartei so heftige Ausdrücke nicht tolerieren würde. Tsipras forderte Neuwahlen und den Rücktritt des Premiers.

Den Schlusspunkt setzte Mitsotakis mit seiner Rede vor der Abstimmung über den Etat. Wörtlich sprach er,

es geht (bei der Studie) um Daten, welche ich als erster von allen und seit mehreren Monaten zitiere. Viel früher als bei der angeblichen, der Übergabe der Studie der Herren Tsiodras und Lytras, beim Megaro – an die Regierung, nicht an das Maximou, denn die Studie haben wir nie in die Hände bekommen. Aber wir haben diskutiert…

Mit dieser Reihe „Freudscher Versprecher“ brachte er die Opposition auf. Deren Proteste nutzten nichts, denn vor Abstimmungen hat ein Premier in Griechenland unwidersprochen das letzte Wort – und den Applaus seiner Fraktion.

„Was heißt das konkret für mich!?“

Im Text erfahren die Leser, wieso in Griechenland erhöhte Todesraten registriert werden und wie wenig Konsequenzen eine glatte Lüge eines Premiers im Parlament hat. Sie erfahren auch, warum die Todesfälle mittelbar mit der Kreditgebertroika zusammenhängen.

Beitrag senden

Drucken mit Kommentaren?



href="javascript:print();"