Dirk Müller ist seit vielen Jahren das Gesicht der Börse. Kompetent und charismatisch versteht er es, das Börsenlatein so zu übersetzen, dass es auch Normalsterbliche begreifen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Klartext. Für den NATURSCHECK beantwortet er regelmäßig Fragen zu den Themen Politik, Wirtschaft und Finanzen. Dass Dirk Müller auch Philosoph ist, wissen unsere Leser schon lange.

Lieber Dirk, eigentlich wollte ich Dich wieder zu Deinen Kernthemen befragen. Als ich mir jedoch Deine letzte Analyse zum Thema Weltfinanzpolitik anhörte, war ich richtiggehend deprimiert. Überall rumort es. Und ich habe den Eindruck, dass es auch anderen Menschen so geht und viele genug haben von den täglichen Schreckensnachrichten. Um sich motiviert und aktiv an der Neugestaltung unserer überholungsbedürftigen Gesellschaft zu beteiligen, bedarf es vor allem einer großen Portion Optimismus. Woher nimmst Du Deinen unerschütterlichen Optimismus?

Dirk Müller: Mein Optimismus für die Zukunft beruht zuerst einmal auf der Erkenntnis, dass die Welt so, wie sie ist, schon sehr, sehr gut ist. Als Gesellschaft sind wir natürlich in einem Entwicklungsstadium, in welchem wir noch sehr viel hinzulernen müssen.

Das ist vergleichbar mit dem Leben eines Menschen: An einen Säugling hat man noch gar keine Erwartungen, im Grunde kann er noch nichts. Auch an einen Dreijährigen kann man nicht dieselben Maßstäbe anlegen wie an einen 50jährigen Philosophieprofessor. Wenn sich der Dreijährige nicht wie ein Erwachsener benimmt, wird das von den Eltern akzeptiert. Man ist stolz auf jeden kleinen Entwicklungsschritt und freut sich darüber. Wohl wissend, dass ihm zur Reife noch viele Jahre fehlen. Gleichzeitig versucht man das Kind dabei zu unterstützen, sich zu entwickeln und seine Erfahrungen zu machen.

Wenn wir nun eine Ebene höher gehen und betrachten die Entwicklung unserer Gesellschaft – ist es denn da so viel anders? Haben wir nicht einmal angefangen mit ganz rudimentären Dingen? Wir konnten nicht sprechen, haben uns die Keule übergebraten, waren in allen Belangen Steinzeitwesen. Nun haben wir uns sukzessive weiterentwickelt. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir noch Jahrhunderte von unserem Erwachsensein als Menschheit entfernt sind.

Welches Alter wir derzeit haben, weiß ich nicht. Aber wir sind allemal in einem Entwicklungszustand, der schon viel besser ist, als er jemals früher war. Wir verbrennen keine Rothaarigen mehr auf dem Marktplatz. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch geübte Praxis. Wir haben als Gesellschaft also schon viel erreicht, müssen aber noch viele Erfahrungen machen und manches verändern.

Diesen Status quo zuerst einmal hinzunehmen, mit dem gleichzeitigen Optimismus, ja, der Überzeugung, dass alles noch viel besser werden wird, darin sehe ich meine Aufgabe, etwas Konstruktives zu dieser Gesellschaft beizutragen. Dabei zu überlegen: Wie soll diese Gesellschaft in der Zukunft sein? Und dann alles zu tun, was mir möglich ist, als kleiner Teil dieser Gesellschaft, um diesem Ideal jetzt schon gerecht zu werden und damit diesen Weg der Gesellschaft mit zu begleiten.

Ich bin von meinem Naturell her ein typischer Weltretter. Irgendwann hat mir jedoch eine Stimme zugeflüstert: „Lass´ die alte Welt endlich los! Sie ist nicht mehr zukunftsfähig! Alles ist in Transformation begriffen. Befasse Dich ausschließlich mit der neuen Welt und damit, wie sie sein soll und sein könnte.“ Und ganz ehrlich: Wann immer ich zurückblicke, erstarre ich zur Salzsäule. Passt das zu Deinem Gedankengang?

Dirk Müller: Absolut! Man kann nichts Neues erschaffen, wenn man das Alte nicht loslässt. Und wer würde als Mensch sagen, er möchte wieder der sein, der er mit vierzehn war? Oder mit sieben? Oder mit einundzwanzig? Was haben wir damals für Blödsinn gemacht! Das Leben ist ein beständiger Entwicklungsprozess. Die Welt zu retten, wenn man darunter versteht, sie so zu bewahren, wie sie ist, in einem völlig unfertigen Entwicklungszustand, das ergibt tatsächlich keinen Sinn und ist auch nicht möglich. Dann lieber der Zukunft mutig entgegenschreiten und an der Weiterentwicklung aktiv teilnehmen.

Das passt zu dem ersten Interview im Heft mit Dr. Rosina Sonnenschmidt, in welchem es um die „vier Stufen einer Krise“ geht. Da wird beschrieben, dass sehr viele Menschen sich in Krisenzeiten „das alte Normal“ zurückwünschen. Also Umkehr statt Fortschritt. Während Krisen ja oft wirkliche Entwicklungsbeschleuniger sind, wenn man sie nutzt und Veränderung zulässt. Die dritte Stufe einer Krise bringt immer die Spaltung. Und in der vierten Stufe wäre das Ziel, diese Spaltung wieder aufzuheben …

Dirk Müller: Das ist genau das, was ich als meine Aufgabe sehe: Konstruktive Gedanken beizutragen, mich selbst zu verändern, das Zusammenführende zu betonen, nicht das Spaltende oder das Extreme. Und dazu braucht man Verständnis für den Mitmenschen. Wenn wir unsere Kinder anbrüllen, wenn wir sie schlagen oder ihnen anders Gewalt antun, werden wir sie verlieren. Sie werden nicht mehr mit uns kommunizieren, uns nie wieder zuhören. Die einzig sinnvolle Möglichkeit ist, liebevoll mit dem Kind umzugehen. Das heißt für uns auch: liebevoll mit unserer Gesellschaft umzugehen. Vor allem in schwierigen Zeiten.

Viele Menschen erleben die aktuelle Situation als tiefen, existentiellen Einschnitt in ihr Leben. Manche fühlen sich gar in unschöne deutsche Zeiten zurückversetzt, als bestimmte Menschengruppen stigmatisiert, entmenschlicht und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Ich erhalte täglich verzweifelte Anrufe von Menschen, die massiv unter Druck gesetzt werden und nicht mehr weiterwissen. Was würdest Du diesen Menschen raten?

Dirk Müller: Ich kann das mehr als nachvollziehen. Mir waren diese Einschränkungen auch von Anfang an ein Gräuel, und ich habe lange auch Probleme gehabt, damit umzugehen. Letztlich kann ich mich dieser Situation aber nicht entziehen. Ich kann versuchen, meine eigene Unabhängigkeit bestmöglich zu bewahren. Ich versuche, so selbstbestimmt wie möglich zu leben und das zu tun, was ich für richtig halte. Es ist nicht in allen Dingen möglich. In manchen Bereichen muss ich mich den gesellschaftlichen Zwängen beugen, weil einfach Gewalt angewendet wird.

Das ist aber nun mal Teil unserer Gesellschaft. Das muss ich nicht gut finden. Aber das ist auch nichts, an dem ich verzweifle, sondern mir sage: „Das war immer wieder einmal so, wird aber vorübergehen.“ Und ja, das, was gerade geschieht, hat in den dunkelsten Phasen deutscher Geschichte schon einmal so stattgefunden. Wenn man sich heute die Kampfrhetorik anhört, die von bestimmten Politikern, Wissenschaftlern und hoch angesehenen Medienleuten kommt, wie etwa „die Tyrannei der Ungeimpften“ oder „Härte gegen Ungeimpfte“ oder „Ungeimpfte gefährden die Gesellschaft“ usw., und wenn man hier die Begriffe austauscht und ersetzt durch Personengruppen von vor 80 Jahren, dann ist es die gleiche Rhetorik, die gleiche psychologische Spielart.

Das klingt nicht wirklich nach Weiterentwicklung. Mich fragen viele Menschen: Wie lange geht das noch so weiter? Wann endet das? Was ist Deine Meinung?

Dirk Müller: Ich glaube nicht, dass das so schnell endet. Ich glaube, dass Einschränkungen und Druck weitergehen. Dass wir dann im nächsten Jahr vielleicht einen Strategiewechsel bekommen, sobald die Totimpfstoffe vorliegen für alle, die sich derzeit massiv gegen die mRNA-Impfstoffe wehren. Aber letztlich ist es für die Drahtzieher viel wichtiger, dass man diesen Gesundheitspass hat, der mit einer permanenten Überprüfbarkeit und damit mit einer permanenten Kontrolle einhergeht.

Wir haben ja schon mehrfach darüber gesprochen: Die Zeit der grenzenlosen Individualität ist vorbei. Wir erleben einen Umbau unserer Gesellschaft mit einem ganz neuen Narrativ. Während unser bisheriges freiheitliches Weltbild ja davon ausging, dass die Gesellschaft ihr Glück aus der Summe der individuellen Freiheiten und des individuellen Glücks des Einzelnen zieht, folgen wir nun einer chinesischen Denkweise, in der die Gesellschaft das Ideal ist und der Einzelne nur dann sein Glück findet, wenn die Interessen der Gesellschaft gewahrt sind.

Das ist ein völlig anderes Denken, und wir befinden uns gerade auf dem Weg dorthin. Mit der Argumentation: die Rechte des Einzelnen oder der Freiheitsdrang des Einzelnen führt zu unnatürlich großer Ressourcenvergeudung und zerstört den Planeten – und gefährdet damit die Gesellschaft als Ganzes. Der Planet ist zu klein für das Individualitätsstreben von acht Milliarden Menschen. Dieser gesellschaftliche Umbau wird nun mit allen Möglichkeiten vorangetrieben, die zur Verfügung stehen: über Kontrolle, Überwachung, Marketing, etc. Und natürlich mit sehr viel Druck auf all jene, die sich diesem neuen Narrativ nicht fügen.

Dazu kommt mir ein Bild: Wir leben ja in der Welt der Polarität. Und was sich auf den ersten Blick äußerst bedrückend anfühlt, hat ja auch noch eine andere Dimension. Wir leben immer noch im Explosionszeitalter. Alles drängt von innen nach außen, möchte sich immer weiter ausdehnen. Wir suchen außerhalb von uns selbst, im Konsum, in den unbegrenzten Möglichkeiten, in der großen weiten Welt das Glück. Wir bereiten uns ständig auf ein Leben vor, das nie stattfindet, sind nie bei uns selbst. Nun werden wir durch die Einschränkungen und den künstlich geschaffenen Druck dazu gezwungen, wieder „zu uns zu kommen“, wieder in uns zu gehen, uns wieder an das Wesentliche zu erinnern.

Dirk Müller: Das hast Du extrem gut ausgedrückt. Und das trifft auch genau auf mich selbst zu. Ich habe mein Leben sehr exzessiv gelebt, jahrzehntelang, mit sehr viel Reisen, mit sehr viel Ressourcenverbrauch. Die letzten eineinhalb Jahre haben mich dazu gezwungen, das komplett anders zu leben. Ich habe mich vollkommen auf das Innere zurückgezogen. Meine letzte Auslandsreise ist jetzt wohl drei Jahre her. Selbst innerdeutsch bin ich nun so gut wie nicht mehr unterwegs.

Das heißt, mein Leben hat sich absolut verinnerlicht. Auch mein Interesse an äußerlichen Dingen, an Gegenständen, an Erlebnissen außerhalb, hat sich massiv reduziert. Und dafür habe ich eine große Freude an der Auseinandersetzung mit mir selbst gewonnen, mit meinen Gedanken, mit Philosophie, mit Büchern, mit Musik. Ich habe eine Sehnsucht nach Stille entwickelt, nach Ruhe, nach Zeit mit mir selbst, die ich früher in der Form gar nicht kannte.

Das ist genau, was Du beschreibst: wo der äußere Druck dazu geführt hat, dass man sich auf das Innere konzentriert. Und ich empfinde das für mich persönlich als sehr wichtigen Entwicklungsschritt, als große Bereicherung. Und ich habe schon spaßeshalber gesagt: Ich wünsche mir so eine Art kleinen Lockdown nur für mich selbst. (lacht) Alle anderen dürfen gerne draußen Party machen …

Ich erinnere mich oft an ein Gespräch, das ich vor einiger Zeit mit dem Kulturanthropologen Wolf-Dieter Storl über unsere derzeitige Weltlage geführt habe. Er ist überzeugt, dass wir als Menschheit unterschiedliche Zeitalter durchlaufen, die aber immer wiederkehren. Das aktuelle Geschehen entspricht wohl dem bronzenen oder auch ehernen Zeitalter, in welchen das Chaos herrscht. Alles wird nach außen gewirbelt, und der einzige geschützte Raum ist das Auge des Sturms. Wir sind also gezwungen, in unsere innere Mitte zu kommen, um nicht hinausgeschleudert zu werden …

Dirk Müller: Ganz genau. Und dasselbe gilt für unsere Gesellschaft. Auch hier sollten wir uns in der Mitte treffen, die Spaltung überwinden, mehr den Konsens suchen, uns nicht voneinander trennen lassen. Selbst wenn andere Menschen komplett gegenteiliger Meinung sind, sollten wir Respekt haben, Verständnis haben, den anderen zu verstehen suchen, ihm auch signalisieren, dass man seine Argumente nachvollziehen kann. Selbst wenn einen die eigene Lebenserfahrung zu einer anderen Einschätzung kommen lässt.

Ich glaube, es gibt kaum etwas Wichtigeres im Moment. Anstatt die eigene Meinung zum Maß aller Dinge zu erheben, sollten wir immer im Dialog bleiben. Nur so können wir Spaltungen überwinden. Natürlich ist das nicht immer einfach, sonst würde es ja jeder tun. Aber wir haben ja über die Gesellschaft gesprochen, die noch Jahrhunderte von einem Idealzustand entfernt ist. Und die Gesellschaft ist ja letztlich nur die Summe der Einzelnen. Und wie die Gesellschaft ist auch jeder Einzelne von uns fast zwangsläufig noch Jahrhunderte von einer philosophischen Figur entfernt, die weise und durchdacht ist wie ein Gandalf. Und da wir der Gesellschaft dann am besten dienen, wenn wir uns selbst weiterentwickeln, sollte darauf unser Hauptaugenmerk liegen. Das hilft uns selbst und auch allen anderen.

Zum Thema Politik und Gesellschaft ist mir aus 2021 in Erinnerung geblieben, wie wenig unsere Politik funktioniert und wie gut oftmals die Gesellschaft. Das beste Beispiel sind die Überschwemmungen im Ahrtal im Juli. Während die Regierung bis heute kaum Hilfsgelder ausbezahlt hat, haben sich die Bürger in atemberaubendem Tempo formiert. Die Hilfsbereitschaft war überwältigend, da anfangs spontan und unbürokratisch möglich. Eine Welle der Solidarität ist übers Land gerollt …

Dirk Müller: Ja, es ist der Einzelne, der die Gesellschaft ausmacht. Und wenn hundert Menschen im Ahrtal helfen, strahlt das auf größere Teile der Gesellschaft aus und motiviert, auch etwas zu tun. Und genau so funktioniert es: Wir verändern die Welt nicht von oben nach unten, indem wir die Politiker verändern, sondern wir verändern die Welt nur, wenn wir im kleinsten Element anfangen – und das sind wir selbst! Unser eigenes Denken!

Da können wir jederzeit ansetzen und uns fragen: Wie denke ich über meinen Partner? Wie denke ich über meine Familie? Wie denke ich über Freunde? Wie denke ich über die Gesellschaft? Mein eigenes Denken kann ich jederzeit verändern. Und damit ist schon ein ganz wesentlicher Teil der Welt verändert.

Wenn ich das geschafft habe und hier im Wesentlichen positiv bin, positiv über andere denke, und nachsichtig und liebevoll über andere denke, dann kommt der nächste Schritt, dies auch im Alltag zu leben. Wenn es mir auch dort gelingt, selbst in Konfliktsituationen den Mitmenschen liebevoll zu begegnen, ist ein Riesenschritt getan…

Jeder Mensch kann die Welt verändern. Und zwar ganz real! Indem jeder von uns den Teil der Welt ordnet, für den er zuständig ist – und das ist in erster Linie er selbst.

Lieber Dirk, ganz herzlichen Dank für das interessante und wieder sehr offene Gespräch. Wir freuen uns schon auf das nächste Mal!

Das Interview führte Michael Hoppe

Der Text erscheint in Kürze in der Zeitschrift „Naturscheck“.

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