Gedanken zum Quatargate Skandal um Eva Kaili

Zum Spaß hatte ich das tatsächlich bei einer Diskussion mit Freunden gesagt. Alle lachten – zunächst. Denn hinterher gab es intensive und sehr nachdenkliche Diskussionen. Statt des Anrufs habe ich mich entschieden, meine kommentierenden Gedanken zum Fall niederzulegen und mit Ihnen zu teilen. Denn, bei erneutem Nachdenken gibt es keinen Grund zur Dankbarkeit. Der Fall Kaili ist Teil der Dystopie, in der wir alle leben. Weitere Festnahmen und ertappte korrumpierte Politiker sind zu erwarten.

Evas Fall aus dem Paradies als Fortsetzungsgeschichte

Wir blicken alle, zumindest diejenigen, die sich mit Politik beschäftigen, auf eine denkwürdige Woche zurück. Eine EU-Parlamentsvizepräsidentin wurde mit vielen Plastiktüten voller - zum Teil druckfrischen Bargeldnoten - in ihrer Wohnung erwischt. Ein kompromittierender Bargeldfund bei einer Politikerin, die als Digitalisierungs- und Kryptowährungsexpertin galt? Mit der Expertise von Kaili kann es trotz der zahlreichen Auftritte als Rednerin bei Kongressen, wie dem Athens Roundtable am 1. Dezember, nicht so weit her sein.

Vieles ist seltsam an der Geschichte, so auch, dass in der Tasche voll mit hunderttausenden Euro, mit der Kailis Vater Alexandros Kailis erwischt wurde, außer dem Bargeld, ein Schnuller, eine Babyflasche, Milchpulver und ein iPad mit Spielen für die nicht einmal zweijährige Tochter von Kaili waren. Laut der italienischen Zeitung La Repubblica hat der Vater der Tochter und Lebensgefährte von Kaili, Francesco Giorgi, für seinen früheren Mentor und Chef Pier Antonio Panzeri Gelder verwaltet und verteilt. Giorgi nimmt nun alle Schuld auf sich und versucht, Kaili zu retten.

Überall tauchen dieselben Namen auf

Panzeri hatte dafür eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit dem Namen „Fight Impunity“ gegründet. Fight Impunity, übersetzt „Bekämpfung der Straflosigkeit“, sollte sich für Menschenrechte einsetzen. Im illustren ehrenamtlichen Verwaltungsrat finden sich neben dem früheren EU-Kommissar Dimitris Avrampoulos, die frühere EU-Außenbeauftragte Federica Morgherini, die frühere EU-Kommissarin Emma Bonino und der frühere französische Premier Bernard Cazeneuve.

Der ehrenamtliche Verwaltungsrat trat direkt nach dem Aufkommen der ersten Vorwürfe zurück. Avramopoulos erklärte in der vergangenen Woche in Griechenland, er habe sich nur ein Jahr mit der der 2019 gegründeten NGO beschäftigt. Sein Engagement habe er sich durch die amtierende EU-Kommission erlauben lassen.

Tatsächlich findet sich auf den Seiten der EU die betreffende Erlaubnis unter der Nummer C(2021) 9002. Darin heißt es auch „der Ausschuss nahm ausdrücklich zur Kenntnis, dass Herr Avramopoulos die Kommission informiert hatte, dass er für einen Zeitraum von einem Jahr vergütet wird.“ Unterzeichnet ist die Erlaubnis von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 3. Februar 2021.

Woraus zweifelsohne hervorgeht, dass der ehrenamtliche Avramopoulos von Panzeris Organisation Geld erhielt. Die italienische La Stampa sieht darin zumindest einen Anfangsverdacht gegen Avramopoulos.

Spätestens hier beginnt die oben erwähnte Dankbarkeit an Kaili zu schwinden. Schließlich gilt es nun endlos lange Dokumente der EU und von Tagungsagenden zu durchforsten, um dort etwas zu finden. Avramopoulos behauptete, dass sein Engagement nach einem Jahr endete.

Allerdings findet sich in der „Stellungnahme der Unabhängigen Ethikkommission vom 10.12.2020“, die zusammen mit dem Dokument C(2021) 9002 veröffentlicht wurde, die exakte Beschreibung von Avramopoulos Aufgaben, „Avramopoulos machte zusätzlich Angaben zu den Besonderheiten seiner Aufgaben: Es wird von ihm erwartet, dass er sich bei Advocacy- und Sensibilisierungskampagnen, wie z. B. Veröffentlichung von Artikeln engagiert, an Konferenzen und Auftragsveranstaltungen teilnimmt und Interviews gibt…“.

Warum das wichtig ist? Weil Dimitris Avramopoulos am Mittwoch, den 6. April 2022 in Delphi beim Internationalen Delphi Forum um 20:05 h eine Gesprächsrunde anführte, in der die „Fight Impunity“ vorgestellt wurde.

Bildrechte: Wassilis Aswestopoulos

Weitere Gesprächspartner waren Kostas Tsiaras, griechischer Justizminister, Evangelos Venizelos, Professor für Verfassungsrecht und früherer Vizepremier sowie Pier Antonio Panzeri, der Gründer und Präsident von Fight Impunity. Somit sollte bewiesen sein, dass Avramopoulos erheblich länger als nur das eine - von ihm eingeräumte Jahr - für die NGO engagiert war. Auf dem gleichen Kongress in Delphi war am Freitag, den 8. April Eva Kaili als Expertin in einer Talkrunde zum Thema „Wettbewerb in einer Welt der (digitalen) Ökosysteme“.

Panzeris NGO war nicht im berühmten Transparenzregister der EU eingetragen. Als Ausrede wird präsentiert, dass es wegen der CoVid-19-Pandemie noch nicht geklappt habe. Um solch eine Information zu überprüfen, müssen natürlich erneut wieder Dateneinträge in Hülle und Fülle durchgesehen werden.

Darüber hinaus ist wichtig, dass Avramopoulos aus dem konservativen Lager der EVP-Partei Nea Dimokratia stammt, und somit nicht zur sozialdemokratischen S&D zählt, der Kaili angehörte.

Und noch eine Affäre

Noch immer ist der Korruptionsskandal rund um Kaili nicht komplett aufgeklärt. In der Zwischenzeit ist außer Katar auch noch Marokko als Geldgeber für Panzeris „Lobbying“ im Visier der Medien. Und gleichen Tag, dem 15. Dezember an dem von der europäischen Staatsanwältin die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Eva Kaili beantragt wurde, hat die Staatsanwaltschaft dies auch für Maria Spyraki von der Nea Dimokratia beantragt.

Spyraki hatte einem Mitarbeiter die Anwesenheit in Brüssel und in Ausschusssitzungen attestiert. Dafür zahlte das EU-Parlament 21.000 Euro. Zu Unrecht, wie nun herauskam. Denn, der Mitarbeiter war - laut Spyraki aus gesundheitlichen Gründen - nicht da und erhielt unrechtmäßig die Auslands- und Sitzungszulage. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) hatte dies herausgefunden.

Beide, Kaili und Spyraki, waren vor ihrer politischen Karriere Journalistinnen. Sie nutzten ihre Prominenz und bekamen bei den Europawahlen 2019 die meisten Stimmen für ihre Parteien, die PASOK und die Nea Dimokratia. Beide waren 2018 Kandidatinnen für die Auszeichnung des EU-Parlamentariers des Jahres. Spyraki gewann 2019 diese Auszeichnung in der Kategorie Industrie, Forschung und Innovation.

Es tat in der vergangenen Woche gut zu sehen, dass es Staatsanwälte und Fahnder wie in Belgien gibt, die ihre Arbeit ernst nehmen.

Können wir einen belgischen Staatsanwalt nach Athen ausleihen?

Denn ebenfalls in der vergangenen Woche berichtete Euractiv, dass im griechischen Abhörskandal zwei weitere prominente Personen unter dem fadenscheinigen Argument der „nationalen Sicherheit“ überwacht wurden, der EU-Parlamentarier Giorgos Kyrtsos und der investigative Journalist Tasos Telloglou.

Die unabhängige Netzbehörde hatte versucht, dem nachzugehen, wurde aber vom obersten Staatsanwalt Isidoros Dogiakos daran gehindert, heißt es im Artikel von Euractiv. Dogiakos ist in Griechenland aktuell mit der Aufklärung des Skandals betraut. Der Minister ohne Geschäftsbereich, Giorgos Gerapetritis, fand das Handeln des Staatsanwalts richtig. „Unabhängige Behörden sind kein Staat im Staate“, sagte er am Samstag während der Debatte zur Verabschiedung des Staatshaushalts.

Bildrechte: Wassilis Aswestopoulos

Stellt sich die Frage, wozu - übrigens auch auf Druck der EU - in Griechenland die unabhängigen Behörden geschaffen wurden, wenn sie nicht ihrer Aufgabe, die Exekutive zu kontrollieren, nachkommen dürfen.

Nicht als Journalist, der ich auf Recherchen angewiesen bin, sondern als Mensch und Bürger bestärkt mich diese Aussage des Ministers in der Annahme, dass eine Causa Kaili in Griechenland erheblich schwieriger aufgedeckt werden könnte als in Brüssel. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, an dem Kaili Vizepräsidentin des Parlaments wäre.

In Griechenland kommen solche Skandale immer erst ans Tageslicht, wenn bei Wahlen eine andere Regierung an der Macht ist, die ihren Vorgängern „eins auswischen will“. Zugute kommt den Regierungsmitgliedern dann, dass ihr Vergehen nach der griechischen Verfassung mit dem Ablauf von zwei parlamentarischen Sitzungsperioden verjährt ist. Es ist zu hoffen, dass Brüssel nicht auf die Idee kommt, solche Regeln auch für die EU einzuführen. In Griechenland gab es nicht wenige, die nicht nur zum Spaß meinten, Athen könne einen Transfer eines belgischen Staatsanwalts gut brauchen.

Ist es nur Kaili oder liegt der Fehler im System?

Glauben Sie, dass Kaili eine Einzeltäterin war, oder steckt mehr dahinter?“, fragte ich einen Politiker in Nordgriechenland. Er, ein Sozialdemokrat, antwortete mit einer Binse:

Das zu beantworten ist die Aufgabe der Justiz. Aber es ist mit Sicherheit ein Skandal, der über Landesgrenzen hinausgeht, und die gesamte EU und die europäischen Institutionen betrifft. Das Beispiel Katar, von der Vergabe der WM bis hin zur Beschönigung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen dort, basiert auf dem Schema, dass Geld alles kaufen kann. Etwas vollkommen Konträres zum Fundament der Werte, auf denen die EU aufgebaut wurde. Es gilt nun, das Ansehen der EU zu schützen. Vor diesem, aber auch vor anderen ähnlichen Skandalen. Ansonsten droht uns der Eindruck eines geschlossenen, isolierten und gewinnorientierten Systems. Eines, das auch über Geldflüsse entscheidet und mit umherziehenden Lobbyisten und Händlern das Vertrauen der europäischen Bürger in die EU erschüttert. Die berühmten Kompromisse innerhalb der EU haben Züge eines orientalischen Basars angenommen. Nach dem Motto, „wir stimmen dafür und sie geben uns dafür dann das“. Posten werden nach dem gleichen Schema verteilt, „Sie bekommen die Bank, ich übernehme das Parlament. X kriegt die Kommission, Y den Rat“. Vergessen Sie nicht, dass die EU-Bürger jemand anderen gewählt hatten und dann sahen, wie die Kommission in andere Hände geriet. Damit wurde der Glaube an und die Hoffnung auf das Kernelement der Demokratie erschüttert: eben, dass gemeinsame Wahlen den Willen der Wähler repräsentieren.“

Es sind Aussagen, wie wir alle sie schon oft gehört oder gelesen haben. Durchaus korrekt und richtig, aber ohne konkreten Lösungsansatz. Vergleichen könnte man sie vielleicht mit dem üblichen Ausweichen von Verantwortlichen, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft mal wieder bei einem Turnier zu früh ausscheidet. Nur ist die Politik kein Ballsport und für uns alle steht mehr auf dem Spiel als ein Ausscheiden aus einem Turnier.

Denn beim zweiten Hinsehen sagen die Binsen des Politikers, den ich nicht bloßstellen möchte, dass Eva Kaili deshalb aus dem Paradies der EU-Finanzierung flog, weil sie mit Geld erwischt wurde. Hätte sie nur mit Posten und Pöstchen geschachert, dann hätte sie mit ihrem Tun durchkommen können. Und das macht mir Angst.

 


Im Text erfährt der Leser Details rund um den aktuellen Korruptionsskandal der EU, sowie einen weiteren, davon unabhängigen Betrugsfall im EU-Parlament. Der Skandal weitet sich aus, weitere Personen stehen - zumindest aus Sicht von Medien - nun auch unter Verdacht. Dass die Justiz in Griechenland anders tickt als in Belgien, ist ebenfalls Thema, wie die Frage, ob Kaili auch ohne das gefundene Geld als korrupt gelte könnte.

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